5 Minuten Pause vom „Karamdadam“

5 Minuten Pause vom „Karamdadam“

Ich sitze auf dem Flachdach eines kleinen Haues in Dapakhel in Nepal. In der Ferne höre ich das allgegenwärtige Hupen der Autos und Motorräder die sich auf den vollen Straßen in Richtung Kathmandu schieben. Die Luft ist schwül, denn die Monsunzeit hat vor ein paar Tagen begonnen. An manchen Stellen des unebenen Bodens auf dem ich sitze, stehen noch kleine Pfützen vom Regen der Nacht. Seit drei Monaten bin ich jetzt bereits hier, in einem Waisenhaus nahe Kathmandu. Die zwölf Kids die hier leben, sind meine kleinen nepalesischen Schwestern und Brüder und es ist so ein großes Geschenk, Zeit mit ihnen verbringen zu können. Von allen werde ich hier einfach nur „Brother“ genannt 🙂

Jetzt in diesem Moment sitzt mir gerade der zehnjährige Kumar gegenüber. Vor ein paar Minuten haben wir noch Hausaufgaben gemeinsam gemacht, Mathe und Englisch. Ihm fiel es heute besonders schwer sich nach dem langen Schultag noch weiter auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Also haben wir erstmal die Bücher zugeklappt und haben uns hier oben aufs Dach verkrümelt. Nach ein paar Hampelmännern und Kniebeugen um in Bewegung zu kommen, haben wir uns auf den warmen Betonboden gesetzt um Pause zu machen.

„Einfach sitzen, nichts tun und Atmen? Klingt sehr uninteressant und langweilig!“ sagt Kumar zu mir, nachdem ich ihm meinen Vorschlag für die weitere Gestaltung dieser Pause gegeben habe.

„Ok, dann machen wir jetzt ein kleines Experiment. Halte dir mal deine Nase zu und verschließe deinen Mund.“

Ich lege meine rechte Hand auf meinen Mund und drücke mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand meine Nasenflügel zu, um Kumar zu zeigen was ich meine.

„Okay, mach ich!“ sagt er und kopiert meine Handhaltung und hält die Luft an. Wir schauen uns dabei mit offenen Augen an. Es vergehen 4 Sekunden…8 Sekunden. Jetzt verändert sich Kumars Blick. Die Fragezeichen was das Ganze hier soll, stehen ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er zieht die Augenbrauen immer mehr zusammen, löst schließlich die Hand vom Mund, atmet mit einem Seufzer aus und erleichtert ganz tief ein.

„Puh, ich konnte nicht länger anhalten meinen Atem.“ sagt er in seinem typisch nepalesischen Englisch das ich so mag.

„Hm, vorhin war Atmen noch uninteressant und langweilig. Es ist doch erstaunlich wie schnell das Atmen jetzt auf einmal interessant für dich wurde, oder?“ stelle ich mit einem Augenzwinkern fest.

Er denkt kurz nach und dann fangen wir beide an zu lachen.

„Okay André-brother, jetzt verstehe ich.“ sagt Kumar.

Er kommt auf mich zu, lacht verschmitzt bis über beide Ohren, klopft mir auf die Schulter und sagt ganz selbstverständlich: „Dann probieren wir jetzt das mit diesem Sitzen und Atmen, yes?“

„Machen wir! Und dann bringst du mir weiter bei wie ich auf Nepali zählen kann, okay?“ frage ich und versuche mich dabei an 10-20 aus der gestrigen Stunde zu erinnern.

„Das, eghara, baahra…ähh…warte kurz…“

„Tehra brother, tehra ist 13. Hast du schon vergessen?“ schreitet Kumar ein und hebt den Zeigefinger wie ein Oberschullehrer.

„Ach stimmt! Das müssen wir wohl noch mal zusammen wiederholen!?“

„No Problem“ sagt Kumar und wackelt dabei in typisch nepalesische Manier den Kopf von links nach rechts, was hier so viel wie Ja bedeutet.

Und so machen wir die nächsten 5 Minuten gar nichts. Sitzen einfach nur da. Mit geschlossenen Augen, auf dem warmen Boden des Flachdachs. Wir beobachten einfach unseren Atem. In ein paar Kilometern Entfernung verdunkelt sich der Himmel bereits. Zu dieser Jahreszeit ziehen täglich am Nachmittag die schwarzen Gewitterwolken auf. Das leise Donnern aus der Ferne ist uns aber jetzt egal. In diesem Moment lassen wir uns noch die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen, bevor diese hinter den Wolken verschwinden. Wir sitzen einfach hier und atmen, sonst nichts.

Und als wir die Augen dann wieder öffnen sagt Kumar mit einem Lächeln und ganz leise zu mir: „Brother, das war sooo schön und so ruhig mit dem Sitzen und Atmen. Können wir das morgen auch machen? Wie heißt das eigentlich?“

„Das nennt sich Meditation und gerne können wir das morgen wiederholen,wenn du magst.“ sage ich zu ihm.

„Ah Meditation. Ich denke Meditation ist very very nice.“ sagt er, macht wie aus dem Nichts eine Vorwärtsrolle, sitzt plötzlich vor mir und hebt die Hand für ein High Five. Ich klatsche ein, so wie wir das immer machen. Kumar schaut nach oben in den Himmel und stellt treffend fest:

„Schau mal, das Gewitter ist gleich hier!“

„Was heißt Gewitter auf Nepali?“ frage ich.

„Adhiberi, aber wir sagen auch Karamdadam, wegen Geräusch von Gewitter“.

„Karamdadam“ wiederhole ich lächelnd.

Aus dem Treppenhaus schallt die Stimme von Haus-Mama Sharmila „Kaana, Kaana aunu!“ worauf hin sich alle im Haus auf den Weg an die im Erdgeschoss aufgestellten Tische machen.

„Brother, jetzt ist Tea Time! Mutter hat schon gerufen. Komm wir gehen!“ fordert Kumar mich auf.

Die Wolken über uns werden jetzt bedrohlich dunkel. Und so gehen wir gemeinsam durch diese kleine, weiß angestrichene Holztür, über die wir ins Treppenhaus zurück ins Innere des Hauses gelangen.

Wenige Minuten später kracht es am Himmel, der Wind peitscht den Regen gegen die Fenster und es regnet wie aus Gießkannen.

Wir lassen uns aber vom Sturm da draußen nicht beeinflussen. Wir sitzen hier und schlürfen alle gemeinsam unseren süßen Masala-Tee. Das Gewitter ist jetzt direkt über uns und auf einmal kracht es gewaltig am Himmel. Wir zucken alle kurz zusammen. Die kleine Shila klammert sich an ihre Mama, die ihr liebevoll über den Kopf streichelt.

„Gut das wir sind hier drin in Sicherheit oder?“ sagt Kumar zu mir und schiebt mir einen von den Keksen rüber die vor uns auf dem Tisch stehen.

„Ja, kleiner Bruder, da hast du Recht. Das ist sehr, sehr gut!“ antworte ich und schaue in die vielen freudigen kleinen Gesichter um mich herum.

Wir konnten heute zum Glück rechtzeitig durch die kleine weiße Holztür ins Innere gehen. Hier ins Innere, an diesen sicheren Ort. Hier, wo wir geborgen sind. Einem Ort der auch den wildesten Stürmen die da draußen passieren standhält.

Wenn es heute mal wieder zu turbulent um mich herum wird, dann denke ich auch nach all den Jahren immer wieder gern an diese Situation mit Kumar und den Kids zurück. Sitzen, atmen und durch die kleine weiße Holztür gehen, die mir Zugang ins Innere und Schutz und Geborgenheit vor dem Karamdadam da draußen gewährt.

Wann bist du denn zuletzt durch DEINE kleine weiße Holztür gegangen?

Auch wenn es um dich herum stürmt, hast du immer die Möglichkeit diese kleine Tür zu öffnen. Sei neugierig und öffne sie doch einfach mal. Wirf einen Blick hinein und gönne dir eine kurze Ruhepause vom Sturm und dem Karamdadam um dich herum 🙂

Damit du deine eigene kleine weiße Tür einfacher findest, kannst du dir gern meine geführte Meditation für innere Ruhe und Kraft ausprobieren:

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Dieser Beitrag hat 9 Kommentare

  1. Sandra

    Ein toller Moment!
    Durch deinen Text fühlt man sich, als wäre man direkt dabei gewesen!
    Freue mich auf weitere Texte und wünsche dir einen guten Start!

    1. André

      Liebe Sandra, vielen Dank für deine lieben Worte. Es freut mich sehr, dass du direkt mitreisen konntest 🙂 Weitere Texte folgen schon ganz bald.

  2. Utti

    Ach ja, einfach nur „deri ramro cha“ brother! ? ??️?‍♂️ Freue mich auf mehr!
    Namasté,
    Utti-brother

    1. André

      Namasté Utti, ich danke dir. Du hast bestimmt viel wiedererkannt oder? Namasté brother ?

  3. Katrin und Jens

    Ein sehr einfühlsamer Text und man spürt in jeder Zeile, dass du mit ganzem Herzen dabei bist!
    Wir wünschen dir viele Interessierte, die du genauso wie den kleinen Kumar begeistern kannst und denen du somit zur inneren Ruhe verhelfen kannst. Wir gehören dazu! Viel Erfolg und einen guten Start!

    1. André

      Hallo ihr Lieben, HERZlichen Dank für die lieben Worte. Freut mich, dass ihr beiden auf der Reise dabei seid. GLG

  4. Christian Göbel

    Toller Text mein Lieber, jetzt haben wir uns schon so ewig nicht mehr gesehen! Der Text lässt einen richtig mitfühlen und ich hätte gleich so viele Fragen an Dich!!! Das was Du da machst passt sehr gut zu Dir! Du bist der Tretmühle, dem Wahnsinn und dieser Geschwindigkeit dieser Gesellschaft entkommen… Ich hoffe wir sehen uns bald mal wieder. Liebe Grüße Christian

    1. André

      Mensch Christian, schön von dir zu lesen. Danke erstmal für deine tollen Worte. Freut mich sehr, dass du beim Lesen mitfühlen konntest. Lass uns gern über deine Fragen sprechen. Ich habe auch ein paar 😉 Bin auch gespannt was bei dir so alles los ist. Beste Grüße André

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